Paul Wallfisch
THE TUNNEL OF LOVE • TONSPUR FOR UKRAINE

THE TUNNEL OF LOVE
In der ersten Nacht in Lviv weckten mich um 4 Uhr 38 die Luftalarmsirenen mit klirrenden Fenstern. Ich stürzte auf die Straße, denn ich dachte, wenn ich der Menge folgte, würde ich wohl in einen Luftschutzkeller kommen. Doch nach einigen Minuten heller Panik traf ich bloß eine einzelne Frau und fragte in englischem Kauderwelsch: „Luftschutzwarnung! Menschen nix Schutzraum?“ Sie antwortete knapp: „Nein, Menschen nix Schutzraum. Menschen schlafen. Wenn Bombe kommt, Menschen sterben.“
Ich war auf dem Weg zur ukrainischen „Liebeshöhle“ (Tunnel of Love), die ich teilweise in eine Wiener „Klanghöhle“, nämlich die TONSPUR, eine klangkuratierte Passage, die vom Westen ins Museumsquartier führt, einbringen wollte.
Seit Beginn der russischen Großinvasion ist Georg Weckwerth in seiner kuratorischen Mission solidarisch mit der Ukraine. Als er mich damit betraute, die nunmehr bereits vierte «TONSPUR for Ukraine» im Juni 2025 zu gestalten, teilte er mir sein Gefühl mit, er glaube, dass ich als Amerikaner vielleicht eine neue Perspektive auf die momentane Tragödie in der Ukraine einbringen könnte.
Mein Soundtrack besteht aus Eisenbahnschienengeräusche, Trompeten, Pfeifenorgeln und Kirchenglocken. Aber auch Sängern, Straßenbahnen, Musikboxen und Schnapsbars, Soldaten auf Krücken, die in Teslas steigen, und einem Taxifahrer, der mir sagte, Präsident Selenskyj sollte „ertränkt und gevierteilt“ werden, jedenfalls wenn ich meinem Google Translate traute.
In der Nähe von Rivne, dem einstigen Hauptquartier des Nazi-Reichskommissariats Ukraine, ging ich kilometerlang durch die „Liebeshöhle“. Im Januar waren alle Blätter von den Bäumen gefallen, also gab es die Höhle vor allem in meiner Phantasie. Dennoch war sie um nichts weniger spektakulär.
Wir sehen in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil dessen, was sichtbar ist. Wir hören kaum mehr als zehn Prozent unserer Klangumgebung, um zu verstehen, was wir hören.
Sich auf die ekphrastische Natur des Daseins zu konzentrieren, eigentlich einfach nur achtsam zu sein, ist unsere einzige Chance auf Bedeutung. Es gibt keinen Sinn, außer dem, der durch den Bogen der Zeit vermittelt wird. Und diesen Bogen gibt es nur, wenn man auf ihn achtet.
Und dann wird der Soundtrack zur Musik. Und dann, so schrieb mein Freund Dan Kaufman, kann Musik ein anderer Name für Liebe sein.
Paul Wallfisch
Photos Paul Wallfisch

TONSPUR FOR UKRAINE
Paul Wallfisch
The Tunnel of Love
TONSPUR_passage | Micro Museum for Sound
MQ Wien
16 Jun–6 Sep 2025
täglich 10–20 Uhr
Eröffnung 15. Juni, 17 Uhr