Paul Wallfisch

THE TUNNEL OF LOVE • TONSPUR FOR UKRAINE

The Tunnel of Love

Panorama @ Frank Paul

THE TUNNEL OF LOVE

Eine Passacaglia über Angst und Flow. „The Tunnel of Love“ ist 81 Minuten lang, die durchschnittliche Länge einer Luftschutzwarnung in der Ukraine. Bei jeder Wiederholung wird eine Sekunde zur Länge hinzugefügt – ein Echo auf die Ungenauigkeit unserer Kalender und Uhren. Instrumente, mit denen wir Zeit und Vorstellungen von Bedeutung und Zweck definieren. Treibende Kräfte von Nationalismus und Krieg. Wie die Vorstellung von Gott sind sie verzweifelte Versuche, in einer amorphen und bedeutungslosen Welt Beständigkeit und Bedeutung zu erlangen. Wie durch ein Wunder bestehen sie aus Momenten unbeschreiblicher Schönheit und Ekstase.

In der ersten Nacht in Lviv weckten mich um 4 Uhr 38 die Luftalarmsirenen mit klirrenden Fenstern. Ich stürzte auf die Straße, denn ich dachte, wenn ich der Menge folgte, würde ich wohl in einen Luftschutzkeller kommen. Doch nach einigen Minuten heller Panik traf ich bloß eine einzelne Frau und fragte: „Luftschutzwarnung! Menschen nix Schutzraum?“ Sie antwortete knapp: „Nein, Menschen nix Schutzraum. Menschen schlafen. Wenn Bombe kommt, Menschen sterben.“

Ich war auf dem Weg zur ukrainischen „Liebeshöhle“ (Tunnel of Love), die ich in eine Wiener „Klanghöhle“, nämlich die TONSPUR_passage im MQ einbringen wollte. Seit Beginn der russischen Großinvasion ist Georg Weckwerth in seiner kuratorischen Mission solidarisch mit der Ukraine. Als er mich damit betraute, die nunmehr bereits vierte „TONSPUR for Ukraine“ zu gestalten, teilte er mir mit, er glaube, dass ich als Amerikaner eine neue Perspektive auf die momentane Tragödie in der Ukraine einbringen könnte.

Mein Soundtrack besteht aus Eisenbahnschienengeräusche, Trompeten, Pfeifenorgeln und Kirchenglocken. Aber auch Sängern, Straßenbahnen, Musikboxen und Schnapsbars, Soldaten auf Krücken, die in Teslas steigen, und einem Taxifahrer, der mir sagte, Präsident Selenskyj sollte „ertränkt und gevierteilt“ werden, jedenfalls wenn ich meinem Google Translate traute. In der Nähe von Rivne, dem einstigen Hauptquartier des Nazi-Reichskommissariats Ukraine, ging ich kilometerlang durch die „Liebeshöhle“. Im Januar waren alle Blätter von den Bäumen gefallen, also gab es die Höhle vor allem in meiner Phantasie. Dennoch war sie um nichts weniger spektakulär.

Wir sehen in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil dessen, was sichtbar ist. Wir hören kaum mehr als zehn Prozent unserer Klangumgebung, um zu verstehen, was wir hören. Sich auf die ekphrastische Natur des Daseins zu konzentrieren, eigentlich einfach nur achtsam zu sein, ist unsere einzige Chance auf Bedeutung. Es gibt keinen Sinn, außer dem, der durch den Bogen der Zeit vermittelt wird. Und diesen Bogen gibt es nur, wenn man auf ihn achtet. Und dann wird der Soundtrack zur Musik. Und dann, so schrieb mein Freund Dan Kaufman, kann Musik ein anderer Name für Liebe sein.

Paul Wallfisch, geboren 1964 in Basel, Schweiz, lebt und arbeitet in New York City, Vereinigte Staaten von Amerika.

Photos Paul Wallfisch

TONSPUR FOR UKRAINE
PAUL WALLFISCH THE TUNNEL OF LOVE

The Tunnel of Love • 8-Kanal-Klangarbeit, 7-teilige A1-Bildstrecke • Länge 81’00“ • Konzept, Tonaufnahmen, Komposition, A1-Bildstrecke Paul Wallfisch • Installationseinrichtung Norbert Math • Produktion TONSPUR Kunstverein Wien • künstlerische Leitung Georg Weckwerth • besonderer Dank Paul Auster, Andre Gladushevski, Kay Voges

TONSPUR_passage | Micro Museum for Sound
MQ Wien

16 Jun–6 Sep 2025
täglich 10–20 Uhr
Eröffnung 15. Juni, 17 Uhr

Einleitende Worte:
• Uliana Zadvorniak, Erste Botschaftssekretärin
Botschaft der Ukraine in der Republik Österreich
• Kay Voges, Intendant Volkstheater Wien